Karlsruhe, im November 1999
Liebe Freunde,
Frauke wird 20000 Tage alt. In der Nacht vom Montag, dem 29. zum Dienstag, dem 30. November 1999 wird sie die Anzahl voll haben. Es klingt ja etwas futuristisch, weil solche Feiern eigentlich nicht üblich sind: Aber warum soll man das obwohl es mitten in der Woche liegt nicht feiern?
Es gibt einen weiteren, ebenfalls futuristischen Grund. Aber dazu muss ich ein wenig ausholen. Und ich hoffe, euch damit nicht zu langweilen.
Der Jahrtausendwechsel steht vor der Tür. Warum eigentlich?
Weil unsere christlich-abendländische Kultur irgendwann einmal einen "Nullpunkt" gesetzt hat. Als das festgelegt wurde, hatte man noch mit römischen Zahlen gerechnet und bei denen gibt es gar keine Null. Wir verdanken dieser "Vergesslichkeit" der Römer oder auch schlicht dem damals noch nicht ausgereiften Zahlenmodell viele Ungereimtheiten, die uns zum großen Teil gar nicht mehr sonderlich auffallen, und es geht im Übrigen wild durcheinander:
Unser "noch"-Jahrhundert heißt das 20. Jahrhundert, obwohl eine "19" am Anfang steht.
Wenn jemand seinen 50. Geburtstag feiert (hallo Jahrgang 1949!), dann ist der eigentliche Tag der Geburt als der 0. Geburtstag mitgezählt. Ansonsten wäre es schon der 51. Geburtstag. Richtig ist jedenfalls, dass jemand an seinem 50. Geburtstag gerade 50 Jahre "vollendet" hat. Und Frauke am 30.11.99 20000 Lebenstage.
Türkische Kinder sind am Tage ihrer Geburt schon 1 Jahr alt.
Wir sagen "in 8 Tagen" und meinen damit "in einer Woche". Das ist eine alte Sprechweise. "In 1 Tag" würde also, nach dieser Zählung, "heute noch" heißen.
Für die "Badische Geschosszählung" ist das Erdgeschoss schon das 1. Stockwerk. Für die "normale" Geschosszählung ist das Erdgeschoss das 0. Obergeschoss und die Zählung geht mit dem 1. OG, 2. OG "korrekt" weiter.
In der Musik ist eine Prime ein Abstand von 0 Tonschritten (man beachte den Plural!), eine Sekunde ein Abstand von 1 Tonschritt (man beachte den Singular!) u.s.w. mit Terz, Quarte,
Der Monat fängt am 1. an, der Tag beginnt aber um 0 Uhr.
In unserem Alltags-Sprachgebrauch sind die Worte der "Erste", "primär" etc. fest für einen Anfang einer Reihe reserviert.
Bei der Adressierung im Computer fängt man, aus ganz praktischen Gründen, mit 0 zu zählen an.
Mittlerweile haben Mathematiker des vorigen Jahrhunderts (Georg Cantor) und dieses Jahrhunderts (John Horton Conway, Donald Knuth) längst geklärt:
Wir sollten korrekterweise das Abzählen mit dem "Nullten", "Nulltens", beginnen.
Der tiefere Grund ist kurz gesagt:
Man muss unterscheiden zwischen Anzahlen oder auch "Kardinalzahlen" und Aufzählzahlen oder auch "Ordnungszahlen". Die Ordnungszahlen sind einfach Namen von Dingen, die in einer Reihe stehen, die einen Anfang hat. Bei den Kardinalzahlen gibt es die Null schon seit wir im Dezimalsystem rechnen. Wenn wir auch beim Aufzählen, also bei den Ordnungszahlen mit der Null beginnen, dann klingt das zunächst etwas ungewohnt: Weil mit der Null eben "Nichts" verbunden wird. Aber das rührt ja nur daher, dass nicht genügend zwischen Kardinalzahlen und Ordnungszahlen unterschieden wird.
In dem Zahlensystem, das von Conway und Knuth vorgeschlagen wird und das durch nichts bisher in seiner Natürlichkeit überboten wird! basiert die 0 tatsächlich auf dem Nichts, nämlich auf der "Leeren Menge". Und die 0 hat einen Namen, nämlich die "0.", in Worten: die Nullte Zahl. Und dieser Name ist dann die Anzahl 1, in Worten: Eins.
Wenn man das konsequent fortdenkt, dann würde man, wenn man etwa Äpfel in einen Korb legt und dabei abzählt, mit dem 0. beginnen. Und jeder Apfel würde den Namen der Anzahl Äpfel kriegen, die zuvor schon im Korb liegen. Das ist doch natürlich oder? Nach unserer überkommenen Zählung würde jeder Apfel den Namen der Anzahl kriegen, die danach im Korb liegen. Bei der neuen Zählart steckt schon das drin, was wir in der Schule als "Vollständige Induktion" oder "Schluss von n auf n+1" kennengelernt haben. Ihr erinnert euch? Lang ist's her : Denn die Anzahl der Äpfel, die im Korb liegen, geben schon den Namen für den nächsten ab.
Nun, wir wollen von dieser Zählweise einstweilen doch Abstand nehmen, denn sie ist, wie gesagt, futuristisch und würde für ein Weilchen ein heilloses Durcheinander bringen:
Wenn die ABC-Schützen in die 0. Klasse gingen,
wenn die vor uns liegende Adventszeit aus dem 0., 1., 2. und 3. Advent bestehen würde,
wenn man den Walzertakt 0, 1, 2, 0, 1, 2, tanzen würde.
Aber es kommt irgendwann einmal.
Und wo wird dann der Jahrtausendwechsel gelegen haben?
Man wird die Zählung der Monate und Tage nicht wesentlich ändern müssen: Der 1. Januar kann der 1.1. bleiben. Man würde den Dezember zum 0. Monat küren. Also läge vor dem 1.1. zunächst einmal der 0.1., was unserem 31. Dezember entspräche. Davor läge dann der 30. Dezember oder der 30.0. und wenn man weiter zurückzählt, kommt man auf den 1.0., was der 1. Dezember ist. Der Tag davor, also der 0.0., wäre dann der Beginn des Jahres. Dem entspricht der 30. November. Und der Tag davor wäre dann der letzte Tag des alten Jahres. Er würde so heißen wie jetzt auch, nämlich der 29.11. oder 29. November.
Der 29. November ist also "eigentlich" der letzte Tag des Jahres. Wer Lust hat, später einmal sagen zu können, er oder sie sei dabeigewesen, der möge auch aus diesem Grunde an dem Abend zu uns kommen und gegen Mitternacht auf das 2. Jahrtausend und natürlich auf Frauke anstoßen. Wir haben uns vom vergangenen Silvester ein paar Raketen aufbewahrt und hoffen, dass sie noch funktionieren.
Wir freuen uns auf euer Kommen!